Dilemma

Mit der vernetzten Welt hat sich unerwartet und schleichend ein neues Dilemma aufgetan. Wir wissen scheinbar alles über schwelende Konflikte auf entfernten Kontinenten, aber über den nach einem Herzinfarkt seit drei Wochen tot in seiner Wohnung liegenden Nachbarn wissen wir nichts, nicht mal dass er verstorben ist. Über den ungemein süßlich riechenden Fäulnisgeruch seit einigen Wochen denken wir auch nur solange nach wie uns der Weg von der Wohnungs- zur Aufzugstür führt.

Über Meldungen wie diese verzieht man allgemein inzwischen keine Miene mehr. Wen kümmert schon der unmittelbar nebenan lebende Mensch, wenn man sich doch so hervorragend über irgendwelche globalen Schurken aufregen kann, deren Motivation und Tun weitab der eigenen Einflussnahme liegen. Natürlich spielt dieser Umstand keine Rolle, denn theoretisch kluge Reden führen ist einfacher als praktische Nachbarschaftshilfe. Das müsste man ja tatsächlich etwas tun! Dann lieber doch den Nachbarn einsam sterben lassen, man konnte es ja nicht wissen, war ja nur der Nachbar, den kennt man ja heutzutage kaum.

Schlimmer noch als dieser hypothetische Todesfall ist das reale Absterben der eigenen Menschlichkeit. Wir spüren nichts mehr, daher ist uns auch der Nachbar egal geworden. Wir fühlen keine Empathie und machen uns so - ohne Absicht, aber doch - schuldig. Schuldig daran, dass mit jeder einzelnen unserer Nicht-Handlung, unseres bewussten Wegsehens und Nicht-Kümmerns die Gesellschaft jeden Tag ein Stück weit mehr auseinanderfällt.
 
Man "vernetzt" sich zwar online, man nennt tausende "Freunde" sein eigen, aber nichts davon hat Wert oder Bestand. Kein einziger dieser virtuellen Bekannten würde im Bedarfsfall auch nur mehr als einen Like-Finger rühren. Insofern sind wir es dann selbst, die einsam sterben, um im geschilderten Bild zu bleiben. Und unseren Nachbarn ist das natürlich ebenfalls egal.

So leben und sterben wir also in einem selbstverschuldeten Dilemma nach dem Motto "Ich bin ich und du bist du, aber lass mich bloß in Ruh!".

Doch niemand ist eine Insel. Oder will einsam und abgeschieden von der Karte verschwinden.
Deswegen lasst uns keine Gräben ausheben oder in solche zwingen. Freie Sicht für freie Geister. Den anderen zu sehen heißt uns selbst zu erkennen und so gemeinsam zu wachsen.


Dilemma

The networked world has unexpectedly and insidiously opened up a new dilemma. We seem to know everything about smouldering conflicts on distant continents, but we know nothing about the neighbor who has been lying dead in his apartment for three weeks after a heart attack, not even that he has died. We only think about the incredibly sweet-smelling rotten smell we've been smelling for a few weeks for as long as it takes us to get from the apartment door to the elevator door.

People generally don't bat an eyelid at news like this anymore. Who cares about the people living right next door when you can get so worked up about some global villains whose motivation and actions are far beyond your control? Of course, it doesn't matter, because it's easier to talk cleverly in theory than to help your neighbors in practice. You would actually have to do something! It's better to let your neighbor die alone, you couldn't have known, it was just your neighbor, you hardly know them these days.

Even worse than this hypothetical death is the real death of our own humanity. We no longer feel anything, which is why we no longer care about our neighbor. We feel no empathy and are therefore - unintentionally, but nevertheless - guilty. Guilty of the fact that with every single one of our non-actions, our deliberate looking away and not caring, society falls apart a little more every day.

You “network” online, you call thousands of “friends” your own, but none of it has any value or longevity. Not a single one of these virtual acquaintances would even lift more than a Like finger if the need arose. In this respect, we ourselves are the ones who die lonely, to stay with the image above. And of course our neighbors don't care either.

So we live and die in a self-inflicted dilemma according to the motto “I am me and you are you, but just leave me alone!”

But nobody is an island. Or wants to disappear off the map, lonely and isolated.
So let's not dig trenches or force ourselves into them. A clear view for free spirits. Seeing others means recognizing ourselves and growing together.

Created 12/2024
Category Blog